Eigentlich sollte es ja in den Wilden Kaiser gehen. Eigentlich… Nur die Wetterprognosen für das Wochenende waren durchwachsen, die Gewitterneigung sehr hoch und wer will schon von einem Gewitter in der Wand überrascht werden? Unsere Tourenführer Tobias Bailer und Michael Scharpf machten sich die Entscheidung nicht leicht – zumal die drei Teilnehmer Birgit, Manne und Big noch nie im Kaiser klettern waren und sich gerade deshalb für die Ausfahrt angemeldet hatten. Aber die beiden fanden eine tolle Alternative mit besserer Wettervorhersage, die den anderen auch noch ganz unbekannt war: Göschenertal im Schweizer Kanton Uri.
So fahren wir also am Freitag Nachmittag los in die Zentralschweiz nach Göschenen und hoch zum Göscheneralpsee (1792 m), ein beliebtes Ausflugsziel mit kostenpflichtigem Parkplatz und Restaurant. Von dort steigen wir in ca. 1 1/4 Stunden auf zur Bergseehütte (2370 m). Der für den späten Nachmittag vorhergesagte Regen wartete bis wir auf der Hütte ankamen und fiel erst während des Abendessens ergiebig auf unsere noch draußen stehenden Schuhe herab…
Der kurze Zustieg und Kletterrouten en masse im Umkreis von 30 Minuten von der Hütte lockt viele mehr oder weniger ambitionierte Kletterer auf diese Hütte. Vom Klettergarten bis hin zu fantastischen alpinen Routen ist hier alles zu haben. Hüttenwart Toni Fullin hat die meisten der 155 Routen eingerichtet und ist mit knapp 70 immer noch top fit. Nach wie vor hat er anspruchsvolle Projekte am Laufen und steht gerne mit Rat und Tat zur Verfügung.
Mit der Befürchtung, dass am Samstag Nachmittag doch noch ein Gewitter kommen könnte, brechen wir schon gegen 7:30 Uhr auf zum Südgrat des Bergseeschijen. Der große Klassiker, den bereits vor langer Zeit Walter Pause in seine Alpin-Sammlung „Im schweren Fels“ mit aufgenommen hat! Schon beim Aufstieg zur Hütte haben wir darüber gestaunt, wie viel Schnee dort oben noch liegt. Die Temperaturen sind aber so hoch, dass der Schnee auch morgens schon weich ist und die vorsorglich mitgenommenen Steigeisen nicht gebraucht werden, um zum Einstieg (2500 m) zu gelangen. In zwei Seilschaften durchsteigen wir die 10 Seillängen (3a – 4c) recht flott und erreichen nach ungefähr 3 Stunden Kletterzeit den Gipfel des Bergseeschijen (2816 m). In tollem festen Granit geht es über Platten in der Südwand auf den Grat und zum Gipfel. Nach einer kleinen Rast am Gipfelkreuz steigen wir ab über Schneefelder und einen kleinen Klettersteig und kommen am Fuße der Ostwand an. Es ist erst ein Uhr und das Wetter hält sich, also machen wir uns auf zu neuen Taten.
Die Gruppe teilt sich: Birgit und Michael klettern am Vorbau des Bergseeschijen noch die „Blaue Linie“ (4c, 3 SL) und „Roter Faden“ (5a, 2 SL). Von der Route „Blaue Linie“ sind sie ganz begeistert. Tobias, Manne und Big wollen sich an der Ostwand des Hochschijen austoben. Die Route „Super Bergsee“ ist das Ziel. Bereits die erste Seillänge erweist sich als ziemlich schwer – laut Topo sollte es eine 5c sein (???), die zweite Seillänge 6a. Tobias meistert die erste Seillänge im Vorstieg und die Nachsteiger schaffen es auch irgendwie zum ersten Stand. Doch wie geht es weiter? Tobias gibt alles, aber die zweite Seillänge erweist sich als Hammer und die Nachsteiger hätten wohl das Nachsehen gehabt! So beschließen wir am zweiten Haken den „geordneten Rückzug“ und wollen uns noch eine leichtere Route suchen. Dabei stellen wir fest, dass wir in eine Route eingestiegen sind, die es auf dem Topo noch gar nicht gibt – die „Super Bergsee“ wäre weiter rechts gewesen. Wir entscheiden uns dann für die etwas leichtere „Herbstluft“ (6a), eine wunderbare Kletterei, die uns nochmals ein paar Muckies abverlangt.
Angenehm ausgepowert und müde treffen wir uns nach einem genialen Tag wieder auf der Hütte zum guten Abendessen und Fachsimpeln mit Toni, der uns dann auch verrät, dass die Route, in die wir fälschlicherweise eingestiegen sind, sein neues Projekt ist: 6b+!
Am Sonntag starten wir bei strahlend blauem Himmel eine halbe Stunde früher zum Südgrat (4c) des Hochschijen.(2634 m). Die ersten beiden Seillängen gestalten sich schwerer als gedacht, da der Fels noch etwas feucht und bröselig ist. Danach in der Sonne genießen wir abwechslungsreiche, wunderschöne Seillängen: Platten, Risse, kurze Aufschwünge, Kraxelei auf dem Grat mit kurzen Abkletterstellen. Nach 4 Seillängen kommt eine Abseilstelle, danach geht es auf der anderen Seite steil hoch in rotem (!) etwas speckigem Fels. Danach immer wieder auf und ab auf dem Grat und zum Schluss nochmals eine geniale Seillänge (Platte mit Rissen). Wir sind wieder flott unterwegs und erreichen nach ca. 3 Stunden den Gipfel. Tolle alpine Kletterroute, absolut empfehlenswert! Vom Gipfel seilen wir ab und laufen zurück zur Hütte, packen unsere Sachen zusammen und machen uns auf den Abstieg zum Auto.
Mit der Bergseehütte war das Tourenziel bestens gewählt, wir sind nicht einmal in den Regen gekommen und hatten traumhaft schöne Klettererlebnisse. Dafür ein ganz herzliches Dankeschön an Tobias und Michael für die perfekte Planung und Führung!
Text: Birgit Matheis
Bilder: Tobias Bailer